Donnerstag, 2. Juli 2020

1. Vorbereitend Sprachen lernen?


Ja, die ganz normale Familie sind wir in der Tat nicht. Aber auch wenn es diese vielleicht irgendwo auf der Welt gibt, ist es sehr unwahrscheinlich, dass es nun gerade deine ist. Und wenn du dich entschieden hast, in dieses Buch mit diesem Titel einzulesen, ist dies ein Hinweis darauf, dass du (und deine Familie) ein Stück in die gleiche Richtung von der Normalität entfernt bist wie wir. Und dass du eventuell nicht nur ein Interesse daran hast, dich über das von uns Erlebte zu informieren, sondern auch, dich davon inspirieren zu lassen.

Zu inspirieren ist die Absicht dieses Reiseberichts. Und wenn es auch Umstände in unserem (Familien-) Leben gab und gibt, die ein solches Projekt einfacher zu verwirklichen scheinen lassen als in deinem eigenen Leben, behaupte ich doch, dass jedes Projekt (innerhalb der gegebenen Grenzen) möglich ist, wenn du fühlst, dass es das ist, was du möchtest.
Die Vorbereitung ist Teil des Projektes. Und ich denke, wenn diese natürlich und mit Freude geschieht, sind wir auf dem richtigen Weg. Sollte die Vorbereitung aber anstrengend und unerwünscht erscheinen, ist das vielleicht in Zeichen dafür, dass der eingeschlagene Weg mehr oder weniger „erzwungen“ gewählt wurde…

Wenn ich tatsächlich zum ursprünglichen Beginn meiner persönlichen Vorbereitung auf diese Reise zurückgehen möchte (damals hatte ich weder Kinder noch kannte ich meine Partnerin), würde ich doch sagen, dass ich das große Glück hatte, mit 9 Jahren in der Schule Russisch lernen zu müssen bzw. zu dürfen. Ich gehöre zum vorletzten Jahrgang, der in der DDR noch Russisch als erste Fremdsprache gelernt hat. Und auch wenn ich damals das Schulfach Russisch genauso mochte wie alle anderen Schulfächer, nämlich „nicht so sehr“ (außer Sport), bin ich doch heute sehr dankbar für diesen Umstand.
Dies einzugestehen scheint dem zu widersprechen, wie ich heute lebe und was ich meinen eigenen Kindern anbiete, nämlich sogenanntes „homeschooling“, „unschooling“, im Rahmen des Reisens auch „worldschooling“ oder, wie ich finde am besten ausgedrückt: „Freilernen“. Ich hoffe, dass ich im Laufe dieses Berichtes erklären und illustrieren kann, warum ich heute als studierter Lehrer beim Freilernen angekommen bin und warum ich diesen Weg auch weiterhin für erstrebenswert halte.

Sprachen sind für mich ein sehr wichtiger Teil des Reisens, und vielleicht macht das sogar den Unterschied zwischen Tourismus und wirklichem Reisen aus. Als Tourist schaue ich mir eine andere Kultur an. Als Reisender tauche ich in die Kultur ein. Und um dies zu tun, ist die entsprechende Sprache als Kommunikationsmittel eigentlich unumgänglich. Zwar gibt es auch andere Möglichkeiten, sich mit den Menschen einer anderen Kultur zu verständigen, die gesamte sogenannte nicht-verbale Kommunikation wie Mimik und Gestik, aber ich finde, dass Sprache einen sehr großen Teil der menschlichen Kultur ausmacht (manche würden sogar sagen, dass sie die Essenz der Kultur ist) und uns darum auch enorm viel darüber vermittelt.

Ich muss zugeben, dass ein Hauptziel der Reise für uns als Eltern relativ profan und pragmatisch war: Unsere Kinder sollten Englisch und Spanisch lernen. Erst ganz am Ende, vielleicht sogar am letzten Tag vor dem Beginn unserer Heimreise, habe ich einen Hindu in Phnom Penh getroffen, der mich mit einer einfachen Frage und einem darauf folgenden Ratschlag dazu gebracht hat, den Selbstzweck des Sprachenlernens komplett und nachhaltig anzuzweifeln: Da wir vorgehabt hatten, auch nach Indien zu Reisen, hatte ich auf duolingo.com angefangen, fleißig Hindi zu lernen. Stolz holte ich dann ein paar von mir gelernte Brocken heraus, um Sham, den besagten Hindu zu beeindrucken. Die meisten anderen Reisenden wären geschmeichelt und erfreut gewesen, jemanden zu treffen, der sich die Mühe gemacht hat, ihre Sprache zu erlernen. Diesmal schien das aber nicht der Fall zu sein, denn Sham fragte mich nur ungerührt: „Ach, du warst also schon in Indien?“ Als ich ihm dann etwas verunsichert aber in dem Bemühen, meinen Stolz weiterhin gerechtfertigt erscheinen zu lassen erklärte, dass wir noch nicht dort waren, dies aber noch vorhaben und ich darum als Vorbereitung Hindi auf duolingo lerne, riet er mir von einem solchen „vorausschauenden“ Bemühen ab, mit der Begründung, dass ich alles genau in dem Moment lernen würde, wenn ich es brauche.1
Und in der Tat: Bis dahin hatte ich schon sehr viel Zeit investiert, auf duolingo Chinesisch und Hindi zu lernen. Beides konnte ich aber aufgrund der Covid-19-Reisebeschränkungen nicht in den jeweiligen Ländern anwenden. Im Moment frische ich gerade wieder mein Russisch auf. Aber ob wir in zwei Monaten tatsächlich die Möglichkeit haben werden, doch noch nach Russland zu reisen, ist ziemlich unsicher. Zeitverschwendung also!? Zeit, die ich vielleicht besser nutzen könnte, um im Hier und Jetzt zu leben. Anstatt mich prophylaktisch aus „Besorgnis“ um eine „reibungslose“, „gewinnbringende“ und „austauschreiche“ Kommunikation im Gastland abzumühen.

Andererseits empfehle ich duolingo.com immer noch leidenschaftlich, denn ich denke, dass ich auch Dank dieser kostenlosen Sprachlernseite so schnell Spanisch (und Portugiesisch) erlernen konnte, dass ich am Ende unseres Aufenthalts in Lateinamerika sehr interessante Gespräche über Erziehung, Politik, Philosophie usw. führen konnte, selbst wenn ich noch weit davon entfernt war, fließend oder fehlerfrei zu sprechen.
Ja, das ist es, was ich dabei gewonnen habe, meine Zeit im Netz und auf duolingo zu verbringen. Aber ich habe keine Ahnung davon, was ich dabei verloren oder verpasst habe. ;-)
Auf jeden Fall kann ich selbstkritisch eingestehen, dass ich mein Ego durch das Aneignen von Sprachkompetenzen aufbaue. Diese mache ich mehr und mehr zu meiner Spezialität. Und sogar auf die Sprachkompetenzen meiner Kinder bin ich stolz. Was 'ne Eitelkeit!

1Das deutsche Wort eitel und das englische idle haben dieselbe Wurzel. Während wir im deutschen eitel oft als Synonym von “stolz” benutzen können, bedeutet idle im Englischen u.a. “nutzlos”.

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